Die kleine Alexia kommt lächelnd auf mich zugelaufen: „Meine Mama kommt glaish wieder. Ich hab nish geheult. Meine Mama kommt glaish wieder.“

Ich befinde mich in einer Krabbelstube. Kinder bis zum dritten Geburtstag können hier je nach Bedarf von morgens um sieben bis nachmittags um fünf betreut werden. Die kleine Alexia ist seit etwas über einem Jahr hier.

Die Einrichtung hat einen sehr guten Ruf, wurde erst vor wenigen Jahren eröffnet. Es wird selbst gekocht, es gibt einen gemütlichen Schlafraum und ein großes Außengelände. Hier einen Platz zu ergattern ist mit einer ordentlichen Portion Glück verbunden.

Die Bohne hatte so ein Glück. Ewig stand sie auf der Warteliste. Und jetzt, an diesem Montag im warmen August, stecken wir mitten in der Eingewöhnung.

Nur Minuten später sitzt die kleine Alexia neben mir am Frühstückstisch und weint. Sie ruft leise nach ihrer Mama, während die Erzieherinnen mit einer liebevollen Abgeklärtheit Tellerchen aus Melamin und transparente Becher verteilen.

Ich zähle die Sekunden. Lange Sekunden. „Mama“, schluchzt es noch immer neben mir. Eine Erzieherin unterbricht das Apfelschneiden und zeigt auf die piekfeinen rosa Kletthausschuhe an ihren Füßen: „Sind die vielleicht zu klein? Drücken die? Deswegen weint sie bestimmt.“

Sie nimmt das Mädchen auf ihren Schoß. Mama kommt gleich wieder. Bis dahin ziehen wir mal die Hausschuhe aus. Es ist kurz nach neun am Morgen. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis Mama wiederkommt. Das wissen wir alle, nur Alexia weiß das nicht. Woher auch? Mit etwa zweieinhalb Jahren hat man ja noch kein Zeitgefühl.

Die Tür geht auf. Ein Vater kommt herein. An seinem Bein hält sich ein Junge fest. „Heute ist er ziemlich anhänglich…“, begrüßt er die Erzieherinnen in einem entschuldigenden Tonfall. Ein Meer aus Tränen folgt, aber es hilft nichts: Papa muss zur Arbeit und ist sowieso schon spät dran. „Kein Problem, gehen Sie ruhig.“, lächelt eine Erzieherin und nimmt den noch immer weinenden Anton auf ihren Arm.

Mein Blick schweift durch den Raum. Er ist zweckmäßig, aber nicht spartanisch eingerichtet. Von der Decke baumeln selbstgebastelte Kunstwerke, die bunten Pappen biegen sich. Die Sonne scheint durch die großen Fenster. Kleine Hocker und Stühlchen umrahmen eine Art Rittertafel in Miniaturausgabe. Zwei Kinder liegen auf dem grauen Teppichboden und machen nichts. Eine Laufanfängerin stolpert mal hierhin, mal dorthin, macht im Grunde aber auch nichts.

Die Eingewöhnung erfolgt, wie in diesen Breitengraden üblich, nach dem Berliner Modell: Nachdem ich am Montag und Dienstag je eine Stunde mit meinem Sohn im Gruppenraum saß und vorrangig als Zuschauerin agierte, damit er in Ruhe Kontakt zu den Erzieherinnen bekommen konnte, stand am Mittwoch die erste Trennung auf dem Papier.

„Tschüss, mein Schatz. Ich komme gleich wieder, ja?“, verabschiede ich mich. Die Bohne schüttelt vehement den Kopf und hält sich an mir fest. Ich gebe ihm einen Kuss und eile zur Tür.

Jetzt sitze ich auf dem Flur und höre ihn weinen.

Ob das immer alles so richtig ist?

Schon am ersten Tag weigerte er sich die Hausschuhe anzuziehen. Trotzig stand er mit seinen Straßenschuhen in der Hand im Flur und deutete in Richtung Ausgang: „Da! Daaaa!“ – als würde er wissen, was folgt.

„Das schafft der schon“, hallt es in meinen Ohren nach. Ich vermute, diese Worte sollen mich aufmuntern und optimistisch stimmen. Aber leider funktionieren sie nicht; sein Schluchzen ist nur schwer zu ertragen. Ich fühle mich wie eine Verräterin.

Zehn Minuten später geht die Tür noch einmal auf: Ich darf wieder reinkommen. Hat er wirklich toll gemacht, wird mir gesagt. Meine Augen suchen mein Kind, und es sieht ziemlich verheult aus.

So sieht man vielleicht aus, wenn man das toll gemacht hat. Ich weiß es nicht.

Wir verabschieden uns auf den Fuß; er will nicht winken und auch nicht Bye-Bye sagen. Stattdessen vergräbt er sein Gesicht tief zwischen meiner Schulter und meinem Hals.

Und wieder fühle ich mich unfassbar schuldig.

Als wir am Nachmittag als Familie an den See fahren lässt er mich keine Sekunde aus den Augen, nicht mal zum Kiosk schaffe ich es alleine. Mein Mann zuckt mit den Schultern: Keine Chance, er will nicht bei ihm auf der Decke bleiben.

Am nächsten Tag steht eine erneute Trennung an. Ich solle nicht zu lange im Raum bleiben, sonst sähe er mich noch als Inventar an und das würde die Sache ungemein erschweren. Er weint. Mir ist auch zum Weinen zumute. Mein Herz zieht sich zusammen.

Auf dem Flur komme ich mit der Leitung der Einrichtung ins Gespräch. Endlich ein bisschen Ablenkung!

Sie erzählt, dass sie das kennt, dass ihr das damals genau so ging, dass das jedem Elternteil so ergeht. Ich bin ja nun weiß Gott nicht die Erste.

Und wieder frage ich mich: Ob das alles so richtig ist?

Ich versuche ihr klarzumachen, dass die zwei einzelnen Stunden am Montag und Dienstag vielleicht doch ein bisschen zu kurz für ihn waren, um Vertrauen zu den Erzieherinnen zu fassen. Die letzen zwei Jahre waren wir mehr oder weniger unentwegt zusammen – und wenn nicht, dann befanden wir uns in Trennungssituationen, die sich natürlich ergeben hatten: Die Nachbarin, die kurz auf dem Spielplatz aufpasste, während ich am Eiswagen auf der Straße anstand. Die Oma, die ihn mal übers Wochenende mit zu sich nach Hause nahm. Nie war die Verabschiedung ein Problem gewesen.

Jetzt aber steckt er in einer völlig neuen, großen Umgebung mit unzähligen fremden Gesichtern und Geräuschen. Und das ist alles, aber für ihn bestimmt nicht natürlich. Selbst als Erwachsener braucht man auf einer neuen Arbeit mehrere Tage, wenn nicht gar mehrere Wochen, um irgendwie… anzukommen, oder?

Sie lenkt ein: „Das kann sein, das war vielleicht ein bisschen kurz, aber das können wir ja jetzt nicht mehr rückgängig machen.“, sagt sie. Und sie hat recht damit.

Wenn alle immer so leiden, frage ich mich, muss doch irgendetwas faul sein an der Sache. Kann es sein, dass es sich bei einer Eingewöhnung mehr um Resignation seitens des Kindes denn um wirkliche Gewöhnung handelt? Gewöhnung ist doch etwas, das sich aus sich selbst heraus entwickelt. Und nichts, das man nach einem Schema F forciert.

Und kann es sein, dass die Kinder einfach irgendwann aufgeben, nach ihrer Mama zu rufen – das aber nichts am alltäglichen und immer wiederkehrenden Trennungsschmerz ändert? Die kleine Alexia kommt mir wieder in den Sinn. Vielleicht ein besonders hartnäckiger Fall?

Oder ist das Alter einfach ungünstig?

Vielleicht hätte ich mit der Eingewöhnung starten sollen, als die Bohne noch ganz klein war und es nicht gecheckt hätte. Vielleicht mit 9 oder 10 Monaten. Vielleicht aber sollte ich es auch erst machen, wenn er alt genug ist, um mich zu verstehen. Mit vier Jahren vielleicht, wenn man sagen kann: Ich bin jetzt so lange weg, wie eine Folge Feuerwehrmann Sam dauert. Und dann komme ich wieder und alles läuft wie sonst auch, okay? Und womöglich würde es ihn nicht mal interessieren.

Wäre das dann nicht einfacher für alle Beteiligten?

Nur: Wir müssen ja. Und wir wollen ja auch: Arbeiten gehen, Arzttermine wahrnehmen, Ämtergänge machen, vielleicht sogar mal eine Stunde beim Frisör sitzen oder irgendwelche ehrenamtlichen Tätigkeiten ausführen. Ihr wisst, was ich meine, stimmt’s?

Also bin ich hin- und hergerissen. Ich würde mir gerne mal drei, vier Stunden am Vormittag freischaufeln, um alles das zu tun, was ich nicht tun kann, wenn mein zweijähriger Sohn dabei ist. Auch, um alles das zu tun, das ich in den letzten zwei Jahren nicht mehr tun konnte.

Gleichzeitig aber fühle ich mich eben wie eine Verräterin.

 

Es ist Freitag. Alexia begrüßt mich wie alle vier Tage zuvor mit den Worten: „Meine Mama kommt glaish wieder. Ich hab nish geheult!“

Ich habe einen Kloß im Hals. Ich blicke zu meinem Sohn rüber, der sich gerade zaghaft darauf eingelassen hat, mit einer der Erzieherinnen ein Buch anzugucken. Er lächelt sogar ein bisschen dabei. Leise keimt Optimismus in mir auf: Was, wenn alles gut geht?

Dann beuge ich mich zu Alexia runter und flüstere:

„Ja, Deine Mama kommt gleich wieder.“

 

Mama kommt gleich wieder.