Und jetzt sitze ich hier. Es ist fünf nach zehn am Abend, und in Wahrheit wollte ich schon um neunzehn Uhr angefangen haben zu schreiben.

Über meine Kinder.

Und darüber, welche Erinnerungen an ihre Kindheit wir ihnen mitgeben wollen.

Eben gerade erst bin ich aus der Badewanne gestiegen, die ich außerplanmäßig noch mal eingelassen habe, in der Hoffnung, damit das Baby müde zu planschen.

Davor sah ich ihm eine geschlagene Stunde dabei zu, wie es quer übers Parkett robbte und dabei allerlei Klimbim fand, von dem ich eigentlich dachte, dass ich ihn schon längst in für ihn unerreichbaren Höhen gebunkert hätte.

Und davor stand ich eine halbe Stunde an seinem Bett und hielt Händchen.

Alles für diesen einen Moment, in dem ich mit einer dicken Tafel Schokolade auf der Couch sitzen und meine Gedanken aus dem Kopf, über die Arme, rein in die Tastenfinger und dann aufs digitale Papier bringen würde.

Aber es war alles für die Katz’.

Oder?

Und kaum steige ich mit dem Baby auf dem Arm schaumumsponnen aus der Wanne und tapse tropfnass in die Küche, um Böhnchens Schnuller vom Esstisch zu holen, da fällt mein Blick auch schon auf die Krümel, die im Halbkreis formatiert und mit viel Akribie um Minnes selbstgemaltes Bild herum angeordnet liegen.

„Bauplan für eine Seifenkiste“ hat mein Mann oben drübergeschrieben, genauso, wie Minne es ihm heute Morgen noch diktiert hat.

Seit einigen Tagen schon malt Minne nur noch Seifenkistenbaupläne, und er fing damit an – Ihr könnt es Euch denken – gleich nachdem wir am Wochenende eben so ein Seifenkistenrennen besucht haben.

Als Minne etwa drei Jahre alt war und ich mit ihm an einem verregneten Mittwochnachmittag allein zu Haus, da haben wir ein Papierboot gebastelt und sind rausgegangen und haben uns die größte Pfütze in der Nähe gesucht, um es darin schwimmen zu lassen. Irgendwie fühlte ich mich so, als wäre es ein guter Plan, ihm hier und heute ein paar Erinnerungen zu verschaffen. Frühkindliche Erinnerungen. Erinnerungen, an die er sich später gar nicht mehr wird erinnern können, wahrscheinlich.

Aber ich hörte irgendeinen Song und ich war gefühlsduselig und ich hatte diese Idee davon meinen Job als Mutter ernst zu nehmen und möglichst gut zu machen, wenigstens ab und an. (Und außerdem: es war Mittwochnachmittag – ich musste einfach ausnutzen, dass alle anderen gerade arbeiten waren und ihre gelangweilten Hintern auf einem günstigen Drehstuhl plattsaßen. Und vermutlich würden sie sehnsüchtig aus dem Fenster gucken und raus wollen und nur ich konnte es zu diesem Zeitpunkt tun. Ich meine: man will immer das, was man gerade nicht hat, also bemühte ich mich, es auch mal anders zu sehen.)

Jedenfalls: ja, mein innerer Schweinehund hatte eigentlich trotzdem keine Lust rauszugehen.

Und nein: er kann auch keine wirklich schönen Papierboote falten.

Und bei aller Romantik muss ich gestehen: es kostete wirklich Überwindung an diesem Nachmittag vor die Tür zu gehen, raus in den strömenden, unerbittlichen Regen, vor allem, weil sonst niemand da war, der mich zu solch einer Tat hätte motivieren können.

Wir waren auch nicht lange draußen. Vielleicht eine halbe, dreiviertel Stunde. Wir waren auch nur an einer Pfütze, vielleicht an zweien. Und wir sind auch nicht weit gelaufen dafür.

Aber von diesem Nachmittag erzählt Minne bis heute.

Tolle und lang nachhallende Erinnerungen zu schaffen kostet – aus Sicht der Eltern – Nerven und Zeit und von beidem haben wir eigentlich immer zu wenig, insbesondere, wenn man „nebenbei“ noch zu halben, dreiviertel oder vollen Teilen berufstätig ist.

Und wenn man selbst hungrig ist und eigentlich lieber durch den opulent aufdrapierten, parkähnlichen Garten von Rachel Zoe stöckeln würde, um sich am reichhalten, makrobiotischen Buffet zu bedienen, nach Herzenslust und ohne Kinder (oder sagen wir: zumindest ohne deren Tonspur) – oder wenn man lieber zu zweit auf der Couch sitzen und einen Film gucken würde, dann kostet es besonders viel Kraft und Überwindung. Jedes Mal aufs Neue.

Zurück in der Realität und mit einem Tinitus vom Tag im Ohr wird man am Abend aber eben doch noch über den Teppich kriechen um die eingetrockneten Play-Doh-Fetzen aus den Hochflorfasern zu pulen oder wenigstens noch mal mit einem Feuchttuch aus der Box über den Tripp Trapp wischen. Und wir werden genervt sein oder unserem Partner Vorwürfe machen oder auch mal die Kinder anschreien, weil wir für heute fertig sind mit der Welt. Es gibt ja immer zwei Seiten der Medaille und ich will Euch nicht weis machen, dass es bei uns anders wäre.

Was uns währenddessen oftmals wahrscheinlich nicht bewusst ist, ist wie viele Erinnerungen wir an diesem Tag für unsere Kinder geschaffen haben. Und für uns selbst, versteht sich. Und wie wertvoll sie sind, die guten wie die schlechten. Denn was wären wir ohne Erinnerungen an unsere Kindheit?

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, dann erinnere ich mich an viele schöne Szenen. Aber auch an einige nicht so schöne. Zum Beispiel, als meine Mutter den neuen Mickey Mouse-Jogginganzug auf der hinteren Herdplatte hat liegen lassen. Und dann aus Versehen eben genau diese angedreht hat. Und noch bevor ich ihn am nächsten Tag in der Grundschule hätte vorführen können – ich hatte mich so darauf gefreut – landete er im Müll.

Oder, als ich mich auf Rollschuhen am Fahrradgepäckträger der Nachbarin festgehalten habe. Und sie fuhr bergab und ich bekam Angst und fiel hin, aber ich ließ nicht los und – na, Ihr könnt es Euch denken. Meine Knie sahen aus wie eine zerfledderte Mozzarellapizza und ich weinte bitterliche Tränen und mein älterer Bruder trug mich halb schmunzelnd, halb mitfühlend ins Haus. Ich weiß es noch wie heute.

Irgendwann – ich muss so 10, 11, 12 gewesen sein – meldeten mich meine Eltern zum Reiten an. Nicht lange, wahrscheinlich nur ein paar Wochen, aber ich fühlte mich wie eine Königin in meinen schwarzen Gummistiefeln und mit dem knallpinkfarbenem Fahrradhelm auf dem Kopf. Bis ich vom Pferd geworfen wurde.
Dann wollte ich Schlagzeug spielen, dann hatte ich Gitarrenunterricht. Kurzzeitig war ich auch mal beim Tennis und zum Rhönradturnen angemeldet.

Making memories. Ich will gar nicht wissen, was das meine Eltern gekostet hat. An organisatorischem Aufwand, an Nerven, nicht zuletzt auch an Geld und Gefahren, klar. Aber der Vorteil ist, dass Kindheitserinnerungen nicht zwangsläufig viel kosten müssen: das Wassereis am Kiosk oder auch die Schlammschlacht am See bleiben über Jahre in den Köpfen und kosten `n Appel und `n Ei, das ist der beste Deal überhaupt. Oder vielleicht reicht es auch einfach nur, ihnen zuzugucken, ihnen wirklich zuzugucken, wenn sie sagen: „Mama, guck mal, was ich kann!“

Ich versuche mich oft zu ermahnen und die Zeit für schöne Momente mit meinen Kindern bewusst wahrzunehmen. Das Handy wegzulegen, nicht von allem ein Foto machen zu müssen. Böhnchens Blick zu erwidern und zu halten und ihn nicht abzuwenden, nur, weil im Hintergrund gerade das Düm-Düm vom SpiegelOnline-Push aufploppt oder eine whatsapp-Nachricht reinkommt.

Ich versuche mich selbst daran zu erinnern, wie wichtig Kindheit für mich war.

Und es ist schwierig, besondere Momente aus dem Alltag und allen damit einhergehenden Verpflichtungen rauszufischen und einzeln zu betrachten und aufzusaugen wie ein Schwamm.

Die Tage können lang sein, aber die Jahre sind kurz.

Zusätzlich sind wir eben auch ein voll digitalisierter Jahrgang: Bilder auf dem iPhone, Spiele auf dem iPad, Filme bei Netflix, Musik aus den Sonos-Boxen – alles ist für jeden zu jeder Zeit verfügbar und die Versuchung, damit seinen Tag zu vertrödeln, ist nur allzu groß.

Aber Kindheit ist so prägend, das muss ich Euch ja nicht erzählen. Auch prägend in Hinblick auf Charakterzüge, die ich heute nicht an mir mag.

Beispielsweise habe ich schon immer Angst im Dunkeln gehabt – ohne, dass mir je etwas passiert wäre. Wenn ich im Auto sitze, mache ich die Knöpfchen runter und sollte ich in die Verlegenheit kommen, im Dunkeln auf einem Parkplatz oder noch schlimmer: in einem Parkhaus rumzugeistern, habe ich immer entsperrtes Telefon und Schlüssel parat.

Ich durfte als Kind auch nie alleine Fahrrad fahren – meine Mama hatte einfach Angst um mich – aber der Minnenmacher, der eben ganz andere prägende Kindheitserinnerungen verinnerlicht hat, sieht das heute viel entspannter als ich.

Das ist gut, wir sind eine gute Mischung, glaube ich. Denn ich möchte meine Ängste ungern weitergeben, merke aber auch, wie schwer mir das manchmal fällt.

Ich färbe Minne die Haare bunt (es gibt keinen besseren Zeitpunkt für ausgefallene Frisuren als die Kindheit), wir lackieren uns die Nägel, wir spielen Star Wars mit unseren Laserschwertern aus Wassereis auf dem Balkon.

Hin und wieder darf Minne in seinem heißgeliebten Fußballtrikot schlafen oder die Küchenstühle ins Wohnzimmer schleppen um daraus die tollkühnsten Höhlen zu bauen.

Manchmal erlaube ich ihm auch eine Duschgelflasche zum Säubern seiner Autos aufzubrauchen und damit das ganze Waschbecken und das halbe Bad unter Wasser zu setzen. Für mich ein Garant zum Augenrollen und meistens auch zum Meckern, für ihn serious business – und mit Sicherheit eine der tollsten Kindheitserinnerungen überhaupt. Für mich war es das jedenfalls.

Ich kann gar nicht zählen, wie oft der Minnenmacher Minne in seinen bislang fünfeinhalb Jahren Lebenszeit kopfüber baumeln ließ oder ihn hoch in die Luft warf.

Auf Bauernhöhen, Freizeitparks oder am Meer. Und eine Geschichte kurz vor’m Zubettgehen ist Pflicht, das haben meine Eltern auch immer so gemacht.

Andererseits gibt auch viele Dinge, die bei uns tabu sind: wenn wir gemeinsam am Tisch sitzen, dann, bis jeder fertig ist. (Aufessen muss man bei uns nur, wenn man es sich selbst genommen hat.). Im Kinderzimmer wird generell nichts gegessen – ich weiß, das machen viele Leute anders -, und wenn man etwas zu trinken mit reinnimmt, dann stellt man es nicht auf dem Boden ab. Unter der Woche gibt es außerdem weder Fernsehen noch iPad, aber Hörbücher sind immer erlaubt.

Dafür bestellen wir uns Freitagabend meistens Pizza, die wir dann in der Badewanne essen, um so das Wochenende einzuläuten.

Auch das machen sicher viele Leute anders oder sie finden es autoritär oder antiautoritär oder keinem roten Faden folgend, aber ich fühle mich gut damit und es ist diese Art von Erinnerung, die ich meinen Kindern mitgeben will: wenn wir am Tisch sitzen, dann benehmen wir uns, dann sprechen wir nicht mit vollem Mund und wir hören einander zu, gleiches gilt natürlich auch im Restaurant.

Aber wenn wir alleine zuhause sind, dann können wir die Musik laut drehen und in Unterhosen tanzen oder uns Tattoos aufmalen.

Mal unabhängig davon, wie man solche Regelungen als Außenstehender finden mag: aus Kindheitserinnerungen – egal welche – entstehen Werte. Und die werden im Idealfalle vielleicht sogar mal selbst von den Kindern an andere oder später eigene Kinder weitergegeben.

Es ist ein Drahtseilakt, irgendwie. Sie sollen gut erzogen sein, aber keine leblosen, freudlosen Spießerkinder. Ich will keine Arschlöcher großziehen – weder in die eine, noch in die andere Richtung. Ich meine: niemand will das.

Meine Mama hat immer gesagt: jeder macht es anders und jeder denkt, er macht es richtig. Genauso geht es mir.

Ja, es ist anstrengend, keine Frage, und es bleibt auch vieles auf der Strecke, gerade als Paar. Und manchmal stiefle ich abends eben noch mit dem Böhnchen auf der Hüfte durch die Bude und sehe die Krümel auf dem Tisch und darunter liegen und ich denke an alles, was ich noch zu tun habe, weil ich es tagsüber nicht getan habe oder eben nicht tun konnte und ich seufze.

Aber ich werde niemals zurückblicken auf unser Leben und bereuen, dass ich zu viel Zeit mit unseren Kindern verbracht habe. SpiegelOnline-Push hin oder her.

 

Make memories.