Minne und ich haben gestern spontan einen ehemaligen Kindergartenkumpel besucht, den wir zufälligerweise auf unserer Go-Kart-Runde um den Block getroffen hatten.

Die Mutter – sehr schlank, sehr nett, mit einem freundlichen, aber ausgemergelten Gesicht – lebt nach jahrelanger Ehe seit einiger Zeit getrennt von ihrem Mann und zusammen mit ihrem siebenjährigen Sohn in einem großen Haus.

Neben Minne waren noch einige Jungs aus der Nachbarschaft da, die aber – weil sie irgendwann außer Rand und Band gerieten – nach dreimaligem „Noch einmal, dann ist Schluss!“ von der Mutter nach Hause geschickt wurden.

Das wiederum nahm ihr Sohn zum Anlass für einen Trotzanfall galore, geriet völlig in Rage, nannte sie in Zuge dessen „dumme Kuh“ und brüllte sie auf einen zaghaften Annäherungsversuch mit hochrotem Gesicht an: „SEI LEISE! SEI LEISE, HAB ICH GESAGT!!“

Die Mutter wiederum winkte das ab, schüttelte resigniert den Kopf und setzte sich unbeeindruckt wieder zu mir auf die Decke: „Wo waren wir eben stehengeblieben?“

Mir stockte der Atem. Ich hatte ehrlicherweise nicht mit so etwas gerechnet, weder von ihm, noch von ihr und war wirklich aufrichtig erschrocken. Und ich konnte auch nicht an mir halten, das mit ihr zu thematisieren: „Was war denn das eben? Lässt Du ihm das durchgehen?“, habe ich mit erstauntem Blick gefragt, irgendwie ja doch in dem Versuch, ähnlich cool zu wirken wie sie. Aber es gelang mir nicht.

 

Sie habe schon alles versucht, antwortete sie schulterzuckend, aber egal, wie sie sich verhalten hätte, es wäre immer nur viel schlimmer geworden. Also hat sie sich dazu entschlossen, dem keine weitere Bedeutung beizumessen und ihn gewähren zu lassen. Er hätte schon viel Schlimmeres zu ihr gesagt, halt’s Maul, zum Beispiel. Der würde sich schon wieder abregen.

Obwohl die Sonne schien, wirkte ihr Gesicht irgendwie blass und erschöpft. Die dünnen, strähnigen Haare hingen ihr in die Stirn und das Lächeln fiel ihr sichtlich schwer.
Tapfer, dachte ich. Aber auch: die Arme.

„Und was ist, wenn er irgendwann vierzehn, sechzehn, achtzehn ist?“, habe ich gefragt, „wie soll das weitergehen? Ich meine, er ist Dir irgendwann ja auch körperlich überlegen und…“

Darüber habe sie sich auch schon Gedanken gemacht, räumte sie ein, und irgendwann wäre auch eine Grenze erreicht – nur eben jetzt noch nicht. Sie könne es eh nicht ändern. Und wenn alles nichts helfe, dann müssten sie eben irgendwann getrennte Wege gehen.
Mein Herz zog sich zusammen. Beinahe hätte ich gerufen: „Sowas kannst Du doch nicht sagen!“ – aber ich habe unmerklich genickt und überlegt, ob es nicht irgend etwas Hilfreicheres gibt, das ich beitragen könnte.

„Was würdest Du denn tun?“, fragte sie mit einem Seufzen. „Soll ich ihm eine scheuern? Hab ich auch schon versucht, einmal, als er mich wirklich bis zum Tod provoziert hat. Aber das brachte auch nichts, glaub mir.“

 

Tja. Was würde ich tun? Ich war ratlos.

Minne nahm etwas verloren neben mir auf der Decke Platz und flüsterte in mein Ohr: „Warum sagt er sowas? Haben die Streit?“

Ich nickte.

Alsbald stand Minne auf, ging rüber in Richtung Terrasse, auf der der Junge saß, setzte sich ihm gegenüber und dann hörte ich nur noch mit einem halben Ohr hin. Was ich verstehen konnte, war: „… Und wenn Du Dich nicht benimmst, dann muss ich auch nach Hause, und das ist doch blöd.“

„Er redet mit ihm“, lächelte ich die Mama an, und ich war froh darum, dass er mir damit eine Antwortmöglichkeit gab auf die Frage, was ich tun würde. Gleichzeitig wusste ich aber auch: ihr Kontaktversuch war eben noch kläglich gescheitert.

Drei Minuten später kam Minne wieder rüber zu uns, wandte seinen Blick der Mutter zu, biss sich auf die Lippen und sagte etwas schüchtern: „Der Tobi fragt, ob Du mal rüberkommen kannst. Ich glaube, der will sich mit Dir vertragen.“

„Ja? Wirklich? Ich soll rüberkommen?“ Sie strahlte und die Ungläubigkeit in ihren Augen wechselte sich mit der Freude ab. Sie nahm ihren Sohn in die Arme, flüsterte ihm irgendwas zu und der Junge fing an zu weinen wie ein Schlosshund.

Na, und dann war’s wieder okay. Gott sei Dank.

Trotz alledem beschäftigt es mich noch immer: was tut man, wenn einem das Kind so sehr Paroli bietet – um nicht zu sagen: über den Kopf wächst?

Nichts liegt mir ferner, als jetzt mit dem Finger auf die eben beschriebene Mama zu zeigen oder zu sagen: schaut her, was sie für einen beschissenen Job macht.

Ich kenne sie nicht und ich weiß auch nicht sehr viel über die Familienverhältnisse oder die Vorgeschichte und schlussendlich bin ich auch keine Pädagogin, ganz im Gegenteil: ich reagiere mitunter auch sehr impulsiv und obwohl ich meine beiden Jungs über alles liebe und immer bemüht bin, situatives Verständnis aufzubringen, kann ich diese Empathie bei anderen Kindern nur schwer walten lassen. Andere Kinder sind mir entweder sympathisch oder eben auch nicht, und die, die es nicht sind, will ich gar nicht weiter verstehen, also meide ich sie.

Nur: was würde ich tun, würde Minne „Halt’s Maul!“ zu mir sagen?

Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Ich weiß nur: auch bei einem „Du dumme Kuh!“ wäre hier die Hölle los.

Ich habe keine Ahnung, wie ich reagieren würde, ich stand noch nie vor dieser Situation, aber meine Schmerzgrenze ist bereits dann erreicht, wenn ich ihn drei Mal rufe und niemand reagiert. Nicht, dass Minne funktionieren soll wie ein Roboter, aber eine gewisse Form des Respekts, das meint: dass wir ihn aber auch er uns als Eltern oder mich als Mutter respektiert, setze ich einfach voraus. Nur so, glaube ich, kann man im Familienleben auf lange Sicht bestehen.

Minne hat viele Freiheiten,  aber die paar Regeln, die es hier gibt – unter anderem eben, dass man gegenüber Familienangehörigen und Freunden niemals-nie beleidigend wird – werden tatsächlich ziemlich konsequent umgesetzt. Er darf fluchen („Scheiße“, „so ein Mist“, „das war blöd von Dir“ (nicht zu verwechseln mit: „Du bist blöd“!), auch mal die Tür zuschlagen oder die Fäuste ballen vor Wut. Aber dass er mich beleidigt hätte? Nie.

Ich weiß nicht, warum, vielleicht haben wir bislang einfach Glück gehabt oder alle Anwandlungen in diese Richtung zeitnah im Keim erstickt. Ich meine: alle Kinder testen ihre Grenzen aus, auch Minne, das gehört ja zum Erwachsenwerden dazu. Und wo will man seine Grenzen besser austesten können als daheim, im geschützten Raum der Familie? Die Frage ist eben nur, ab welchem Punkt man sich als Mutter oder Vater ausklinkt und das Kind gewähren lässt, obwohl innerlich vielleicht alle Zeichen auf Rot stehen.

Aber ja: Minne wird auch älter werden und die Erziehung dann sicherlich nicht leichter. Und das macht mir ein bisschen Angst, ehrlich gesagt. Ich dachte immer, sowas gibts nur bei der Super Nanny auf RTL und plötzlich war es so… real. Und nein: Mutter und Sohn sind alles andere als das, was man landläufig als „asozial“ bezeichnet. Der Junge geht auf eine staatliche Schule hier um die Ecke, die Mutter arbeitet halbtags im Steuerbüro, es ist im Grunde alles in geordneten Verhältnissen. Gut, ihr Mann hat sich von ihr getrennt, aber sie haben geregelte Besuchszeiten und zumindest sie wirkt auch ansonsten sehr aufgeräumt.
Ich zerbreche mir wirklich nach wie vor den Kopf darüber: was unternimmt man, wenn es so abläuft wie oben beschrieben?

Zu später Stunde habe ich nochmal meinen liebsten Erziehungsratgeber in Romanform bestellt (Titel: „Warum Französische Kinder Keine Nervensägen Sind“, findet Ihr auch hier auf der Website im Shöp), den will ich ihr beim nächsten Mal schenken. Darin steht natürlich auch kein Patentrezept, aber vielleicht hilft es ihr, zu wissen, dass sie ganz bestimmt nicht alleine ist.

Minne war am Ende des Tages jedenfalls sehr glücklich über das Lob für seine Vermittlungsarbeit, das er vom Minnenmacher und mir am Abend bekam. Und während er sein zweites Belohnungseis verputzte, sprachen wir noch mal darüber, dass sowas absolut gar keine und niemals-nie eine Option darstellen darf. Minne nickte eifrig und war vollends auf unserer Seite. Aber diese kleine Unsicherheit, was wird, wenn er mal älter ist, hat mich trotzdem nicht losgelassen.

 

 

Das Go-Kart ist von Puky und derzeit Minnes liebstes Outdoorspielgerät – neben dem Fahrrad, versteht sich.