Vor einigen Wochen schon wurde ich gefragt, ob ich nicht mal ein paar Zeilen zum Thema Erziehung schreiben könne. Beziehungsweise: das stimmt nicht ganz. Eigentlich war es viel eher latente Kritik, insofern, als dass man den Wunsch äußerte, mal wieder ein bisschen mehr in Sachen Haltung lesen zu wollen. So wie früher vielleicht.

Jetzt ist es nur so: mit steigender publizistischer Reichweite wird man schon auch ein bisschen vorsichtiger mit dem, was man so von sich gibt. Das dürfte auch der Grund dafür sein, weswegen größere Mommyblogger-Accounts immer im gleichen Friede-Freude-Eierkuchen-Singsang vor sich hin dümpeln, und fast ausnahmslos in dieser Welt leben, in der alle Bilder mit dem Zuckerguss der blass-rosa Filter überzogen sind. Zugegeben: es ist langweilig und austauschbar – aber es ist eben auch ein sicheres Fleckchen, von dem aus man nur selten unsympathisch erscheint und ebenso wenig angreifbar ist.

Nicht, dass ich glauben würde, irgendwo da draußen liefe es ernsthaft anders ab als bei uns daheim – aber je mehr Menschen mitlesen, desto mehr Menschen fühlen sich natürlich auch dazu berufen, jeden Satz, jede Äußerung, jeden Ausschnitt aus einem eigentlich fremden Leben zu be- oder auch verurteilen. Klar, das eine geht nicht ohne das andere – aber es gibt eben Gebiete, die besonders viel Zündstoff liefern für endlos lange, mitunter nervenraubende und schon hundertmal dagewesene Diskussionen. Dazu zählen Stillen oder Nichtstillen, Impfen oder Nichtimpfen, das Tragen von Babys, Medienkonsum, Ernährung oder der Türhopser. Wenn man alles das zusammenfassen will, dann am besten unter dem Dachgedanken „Erziehung“, denn irgendwie spielt ja alles das doch irgendwo mit rein. (Füllwort, Füllwort, Füllwort.)

Nichtsdestotrotz: ich möchte es versuchen. Lasst mich über Erziehung konfabulieren; auch auf die Gefahr hin, dass unsere persönlichen Erziehungsansätze andernorts so vielleicht nicht geteilt werden.

Am besten ist es wohl, wir beginnen beim Begriff selbst: Erziehung.
Wenn man den metaphorischen Sprachklang des Wörtchens „Erziehung“ mal analysiert, dann suggeriert mir das „Ziehen“ in „Erziehung“, also im Sinne von: (jemanden zu etwas) hin zu (er)-ziehen alles – außer der Freiheit, sich selbst zu entwickeln. Es hat irgendwie etwas Unfreies, etwas Vorbestimmtes und passt sehr gut in die Zeit, als Eltern noch zu entscheiden hatten, welche Ausbildung ihre Kinder zu absolvieren hatten.

Heute wirkt „Erziehung“ auf mich deswegen viel dominanter und kräftiger, als es eigentlich richtig wäre. Ich habe ad hoc keinen adäquaten Ersatz für das Wörtchen „Erziehung“ parat – aber lasst uns ganz hinten im Hirn mal festhalten, dass der Begriff im eigentlichen Wortsinn nach meinem Dafürhalten nicht mehr sehr zeitgemäß erscheint, obwohl ich ihn trotzdem mehrmals werde verwenden müssen.

Mein Mann und ich sind in diese Elternnummer ja auch irgendwie reingeschlittert. Wunschkind hin oder her – aber ich meine: niemand kann Dir vorher sagen, was der richtige Weg ist. Und wir beide sind auch keine studierten Pädagogen. Ganz im Gegenteil.

Also haben wir uns auf die Werte und Erfahrungen besonnen, die wir in unserer Kindheit und Jugend selbst vermittelt bekommen haben, und die mit unseren eigenen Charakterstärken und –schwächen in einen Lostopf geschmissen.

Ja, so kann man es vielleicht sagen.

Obwohl sich die pädagogischen Ansätze unserer Eltern nicht unbedingt 1:1 vergleichen lassen, so ist es doch enorm hilfreich, dass er und ich uns in vielerlei Hinsicht einig sind. Das konnten wir zuvor freilich nicht absprechen, denn das Leben und erst recht das Leben mit Kind stellt Dich vor eine ganze Reihe bislang unbekannter Situationen beziehungsweise Herausforderungen, auf die man – auch in der Theorie – weiß Gott nicht immer vorbereitet sein kann. Vor zwei, drei Jahren beispielsweise hat Minne mal im Affekt ein Mädchen auf die Schulter gehauen, das zu diesem Zeitpunkt kurz vor Schuleintritt stand. (Er war also etwa dreieinhalb, sie über sechs Jahre alt.)

Der Vater kam daraufhin völlig entrüstet auf mich zu, sprach davon, dass seine Tochter ihm erzählt habe, Minne „schlägt“ sie () – und erwartete neben einer Entschuldigung freilich auch das Verhängen einer Sanktion. („Sowas würde ich meinem Kind aber nicht durchgehen lassen!“)

Tatsächlich war ich eher geneigt, mich auf die Seite meines Sohnes zu stellen. Ich meine: klar ist Hauen scheiße. Aber zum einen war sie ihm zum damaligen Zeitpunkt entwicklungsbedingt haushoch überlegen, hätte das also durchaus mit ihm alleine klären können, anstatt petzen zu gehen – und zum anderen fand ich sie ehrlich gesagt selbst unsympathisch und konnte ihn in dieser Hinsicht fast schon verstehen.

Mehr als innerliches Schulterzucken rang mir die Situation beim besten Willen nicht ab – obwohl mein Mann und ich uns zuvor in der Theorie natürlich einig gewesen waren: handgreiflich werdende Kinder sind nicht so geil, sowas sollte man schleunigst unterbinden.

Jedenfalls: nach unserem Werteverständnis sollte „Erziehung“ genug Flexibilität und Freiraum zulassen für die persönliche Entwicklung des Kindes. Das bedeutet gleichzeitig, dass Argumente wie „Das hat man aber schon immer so gemacht“ einen ziemlich niedrigen Stellenwert haben.

Und Ihr seht schon, worauf es hinausläuft. Nämlich: wir entscheiden einen großen Teil unserer „Erziehung“ situativ und aus dem Bauch heraus und hatten bislang das Glück, dass sich unser Handeln oft mit dem theoretischen Handeln des Partners deckte. Oder zumindest stehen wir uns dabei nicht gegenseitig im Weg.

Ich meine ja nicht, dass man all seine Prinzipien in jeder Situation über Bord werfen soll, aber: man muss auch nicht zwangsläufig immer mit dem Kopf durch die Wand und sich auf Biegen und Brechen durchsetzen. Anstatt eines Festzementierten: „Wir machen das, das und das jetzt genau so und so“ braucht es – je nachdem, was die aktuellen Entwicklungen von der Gesellschaft abverlangen – eben auch eine gewisse Flexibilität von Werten und Erziehungsmaßstäben. Obwohl ich nicht weiß, was am Ende dabei rauskommt, bin ich fest davon überzeugt, dass das einer der besten Wege ist, den man einschlagen kann.

Als diejenigen, die erziehen, liegt die Challenge also darin, frei und offen und intelligent genug zu sein, um undogmatisch auf gesellschaftliche oder politische Einflüsse reagieren zu können – und das in der Erziehung bestenfalls auch zu reflektieren.

Trotzdem gibt es Grenzen (die Freiheitsliebenden unter uns nennen es vielleicht besser „Leitlinien“) und wir legen großen Wert auf eine Kommunikation auf Augenhöhe – unter den Kindern genau wie unter uns Erwachsenen. Persönliche Beleidigungen beispielsweise waren und sind schon immer oberallerstrengstens tabu. Ich meine: „Das finde ich scheiße von Dir“ lasse ich noch durchgehen, ein „Du bist scheiße“ hingegen nicht.

Vor Jahren – weit vor meiner ersten Schwangerschaft – erzählte meine Schwiegermutter mal eine Anekdote aus der Zeit, als mein Mann noch ein kleiner Stöpsel war. Obwohl sie in ihrer Geschichte von einem damals Vierjährigen sprach, formulierte sie es so: „Wir hatten uns gestritten“ – und sie sagte nicht, wie ich es eigentlich erwartet hätte: „Er hat Mist gebaut und ich war sauer auf ihn.“ Sie begegneten sich auf Augenhöhe, wisst Ihr?
Und das gefiel mir. Der Gedanke, das eigene Kind in seinem Handeln ernst zu nehmen (nicht zu verwechseln mit: seine Bedürfnisse ernst zu nehmen), ohne ihm zu viel zuzumuten, gefiel mir einfach. Und ich wollte das genauso machen.

Außerdem gibt es Basiswerte, die mir ebenso sehr gefallen – weil sie einfach immer funktionieren: „Bitte“, „Danke“ und Respekt funktionieren bei einem Atomkrieg, funktionieren, wenn Menschen hungern, funktionieren auch dann, wenn es einem viel zu gut geht. Sie funktionieren einfach überall, in sämtlichen Kulturen. Deswegen sind sie für mich die Mindestvoraussetzung für ein vom Alter unabhängiges, würdevolles Miteinander.

(Allerdings muss ich der Fairness halber ergänzen: in der Theorie sind sie wesentlich besser umzusetzen als in der Praxis: bis Minne sich ein selbstverständliches „Wie bitte?“ angewöhnt hatte, war es ein langer Weg mit vielen, vielen Rückschlägen und ich glaube, die ersten drei Jahre seines Lebens muss er gedacht haben, bevor er sich überhaupt bedanken kann, bedarf es immer erst eines Erwachsenen, der ihn mit einem geflüstertem „Wie sagt man?“ dazu auffordert.)

Natürlich ist das alles kein Garant dafür, dass Minne nicht doch eines Tages zum Terroristen wird. Aber die Kernwerte unserer Erziehung würde ich in einem fiktiven Zwiegespräch mit einem anderen Elternteil auf der Spielplatzbank trotzdem runter brechen auf ein knappes „Liebe und Respekt. Und ein bisschen Spucke und Optimismus vielleicht.“

Hätte ich genug Zeit, wäre ich außerdem versucht anzumerken, dass mein Mann und ich bemüht sind, unsere Kinder zu inspirieren und dazu anzuhalten, selbstkritisch und reflektiert zu sein. Ich würde mich freuen, die Jungs könnten sich später einmal im Kontext mit der Welt sehen – und entsprechend überlegt handeln. Wir thematisieren mit Minne bereits seit Monaten die Flüchtlingskrise, seinerzeit auch die „Ehe für alle“  (wobei ein Großteil dieser Unterhaltung darin bestand, ihm zu erklären, dass es wirklich Menschen gibt, die damit ein Problem haben), wir reden über Obdachlose und auch über Erdogan. Er fragt viel und wir versuchen ihm dabei zu helfen, Antworten zu finden – oder ihn dazu zu ermutigen, sich selbst welche zu überlegen.

Ich freue mich sehr darüber, zu sehen, wie viel Minne davon schon adaptiert hat, welche eigenen Gedanken er mit einbringt, welche Erkenntnisse in so einem kleinen Kinderkopf heranreifen können – und welche es besser nicht sein sollten.

Das Problem an der Sache ist: Werte zu vermitteln bedeutet Arbeit. Jeden Tag aufs Neue, in jeder Situation. Ich kann dementsprechend nicht von uns behaupten, dass wir alles das, was wir eigentlich vermitteln wollen, auch wirklich vermitteln können. Ich meine: wir sitzen alle in einem Boot und jeder von uns ist irgendwann fertig mit der Welt, trifft Äußerungen oder Entscheidungen, die er später vielleicht bereut. Und ich erzähle Euch sicherlich nichts Neues wenn ich sage: manche Tage sind so anstrengend, dass man beim besten Willen keinen Bock mehr hat, irgendetwas anderes zu vermitteln als: Das hier ist eine Scheibe Roggenbrot, die isst Du jetzt – und dann gehst Du ins Bett. Und zwar zackig.

Aber ich denke: auch das gehört dazu und auch das macht unser Miteinander aus.

Im Moment geben wir die Leitlinien vor und vermitteln das, von dem wir glauben, dass es gut und richtig ist. Wir sind nicht davor gefeit, dass unsere Kinder eines Tages den Spieß umdrehen und uns die Leitlinien vorgeben. Sollte Minne also irgendwann die besten Argumente überhaupt dafür finden, weswegen es unsinnig ist, auf Bitte und Danke zu bestehen – ich lasse mich gerne eines Besseren belehren. Ich bin doch irgendwie auch bloß ein Kind.