Vor etwa sieben oder zehn Jahren habe ich nebenbei an einer Tankstelle gejobbt.
Keine von den großen, keine Aral oder sowas. Eine ganz kleine, inhabergeführte, süße, alte Tankstelle. Und die Tatsache, dass sie mich aushilfsweise eingestellt hatten, senkte den Altersdurchschnitt der dortigen Angestellten erheblich. Ich glaube, ich habe so etwas wie „frischen Wind“ dort reingebracht.

Ja, doch, das glaube ich wirklich. Und ich habe gerne dort gearbeitet.

Der Job war super: fast ausschließlich sehr nette, betagte Stammkundschaft ging dort ein und aus und samstags war so gut wie nie etwas los; ich konnte machen was ich wollte und wurde dafür auch noch bezahlt. Zu eben dieser Stammkundschaft zählte auch Harry.

Aber mir wird schwer ums Herz, wenn ich an ihn denke.

Optisch erinnerte er mich damals schon an meinen eigenen Papa: groß und stämmig, mit Vollbart und gutmütigen Augen. Und immer ein bisschen die Melancholie im Blick, selbst beim Lachen. Hey Harry. Beide beschenkt mit einer Aura, die den gesamten Raum einnimmt. Richtige Aufmerksamkeitsmagnete. Nicht wegen ihrer Lautstärke oder den besonders hippen Klamotten. Ich meine, ich weiß nicht. Einfach so. Es gibt solche Menschen. Und diese beiden gehören dazu.

Der größte und tragischste Unterschied zwischen Harry und meinem Papa bestand allerdings darin, dass Harry dem Alkohol verfallen war.

Er trug Jeans und ein rotkariertes Flanellhemd, im Winter auch eine schwarze Lederweste darüber, und er kam jeden Tag vorbei. Ich habe ihn nie wankend erlebt, höchstens mit einem schelmischen, jungenhaften Grinsen auf den Lippen, wenn sich unsere Blicke trafen. Nicht ekelhaft oder anzüglich, wie man es sonst so als junge Frau mit alten Männern schon so manches Mal erlebt hat.
Einfach liebenswürdig, irgendwie, schutzbedürftig schon fast, obwohl er nahezu genauso alt war wie mein Papa.

„Hey Harry!“, habe ich dann immer gerufen, wenn ich ihn hinter meinem Tresen durch die Tür kommen sah. Und wenn Harry lächelte, dann ehrlich. Wie ein kleiner Junge war er. Ein kleiner Junge mit Vollbart. „Hallo Tessa…“, murmelte er dann und begab sich auf direktem Weg zum Kühlregal.

Während fast alle anderen seiner Leidensgenossen das Billigste vom Billigsten nahmen, kaufte Harry bis zuletzt Warsteiner. „Schmeckt mir besser“, hat er immer gesagt. Manchmal hat er nur eine Dose getrunken und ist dann wieder gegangen. Aber die meiste Zeit waren es zwei oder drei Dosen. Das Pfand der einen war die Hälfte der anderen.

Und er kramte das abgezählte Kleingeld aus seiner Hosentasche, überreichte es mir mit seinen warmen, irgendwie väterlichen Händen und setzte sich mit seiner BILD-Zeitung an den kleinen Bistrotisch. Hin und wieder habe ich ihm dann ein Schokoladencroissant vorbeigebracht, auf’s Haus, und dazu einen von diesen Lollis, die es sowieso gratis zu jeder Tankfüllung gab. „ Hey Harry, wenigstens nicht auf nüchternen Magen!“, habe ich dann gesagt und mich zu ihm gesetzt, wenn nichts los war. Er aß widerwillig, aber er aß immer auf. Den Lolli steckte er in seine Hemdtasche, angeblich für den Heimweg.

Ich wusste, er würde ihn nicht essen. Aber das war mir egal. Ich wollte einfach nur, dass er merkt, dass sich jemand um ihn kümmert. Obwohl ich um seine Krankheit wusste und wir uns so manchen Samstag lang darüber unterhalten haben, war ich immer froh, wenn er vorbeikam. Zum einen waren wir beide dann nicht allein – und zum anderen hieß das: er lebt noch, irgendwie. Oder?

Am Schönsten war es, wenn Harry die Motivation hatte von seiner Sucht loszukommen. Verlässlich alle paar Wochen war das der Fall und damit hob er sich meines Erachtens nach klar von der restlichen alkoholkranken Kundschaft ab, die gefühlt schon längst mit sich abgeschlossen hatten. Harrys Aufbruchsstimmung merkte man immer an seinen frisch geschnittenen Haaren, wenn er durch die Tür kam. Und er war rasiert. Und er strahlte bis über beide Ohren und er kaufte eine kleine Flasche Apfelsaftschorle, manchmal sogar zwei. „Hey Harry!“, habe ich dann immer besonders überschwänglich gerufen und wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen. Und dann verschwand er lächelnd mit seiner BILD-Zeitung am Bistrotisch und war leise und unaufgeregt wie immer. Das machte mich richtig glücklich.

Jedes Mal habe ich gedacht, jetzt schafft er’s. Jetzt sicher. Und ich habe ihm auch gesagt, dass es gut wäre, er würde nicht mehr hierher kommen. Obwohl ich ihn vermissen würde.

Harry war immer berufstätig gewesen – bis man ihm einige Jahre vor Renteneintritt betriebsbedingt kündigte. Seine Frau war im selben Jahr an Krebs gestorben, und ich meine mich erinnern zu können, dass seine einzige erwachsene Tochter wegen irgendwelcher Streitereien nichts mehr von ihm wissen wollte. Mit den anderen „Suffköppen“, wie er sie nannte, wollte er nichts zu tun haben.

Jedes Mal, wenn er sich in Richtung Kühltheke bewegte, hoffte ich, er würde wieder zur Apfelsaftschorle greifen. Aber jedes Mal hielt sein Vorhaben nur einige Tage an, dann reichte er mir wieder die Dose Warsteiner zum Abscannen und lächelte mich mit dieser Melancholie im Blick und einem Seufzen an.

Hey Harry, sei nicht traurig, beim nächsten Mal klappt’s bestimmt!

An meinem letzten Arbeitstag hatte ich extra zwei Schokocroissants aufgebacken und den Bistrotisch im Rahmen meiner dortigen Möglichkeiten ein bisschen dekoriert. Ich wollte ihm sagen, dass ich ihn mag und schätze und dass ich hoffe, wir würden uns eines Tages wieder treffen. Ich hätte ihm eine Apfelsaftschorle ausgegeben oder zwei. Und Weihnachten stand vor der Tür und ich hatte ernsthaft überlegt, ihn an Heiligabend zu uns nach Hause einzuladen: Hey Harry, komm‘ doch mit! Aber der Samstag verging und die Croissants wurden kalt und unansehnlich und Harry kam nicht. Kurz machte ich mir Sorgen, aber dann überwog der Optimismus: endlich hat er mit seinen alten Mustern gebrochen. Gutes Zeichen, gutes Zeichen!

Monate später habe ich dann auf der Durchreise Halt gemacht an der Tankstelle und meinen ehemaligen, zugegebenermaßen sehr abgeklärten Kollegen gefragt, ob er denn wisse, wie es Harry geht. Und mit einem Blick aufs Kühlregal und auf die dort leerstehende Reihe Apfelsaftschorle deutend geschmunzelt: „Ganz gut, scheinbar.“

„Harry?“, hat er ungläubig wiederholt. Und dann: „Der is’ längst tot, hat sich totgesoffen, schon vor Monaten. Das muss gewesen sein, so kurz nachdem Du gegangen bist.“

Harry wurde anonym auf einer großen Wiese bestattet.

Hey Harry.

Ach Harry.