Als Minne noch ein Baby war, da wurden „Ohje, ich wachse!“ und „Babyjahre“ als die Kinderbibeln schlechthin gehandelt. Und um ehrlich zu sein sind das bis heute auch die einzigen Bücher, die ich je zum Thema „Entwicklung von Kindern“ gelesen habe.

Ich hätte mir allerdings beide schenken können. Denn sie verleiten dazu, Vergleiche anzustellen, und das führte zumindest bei mir entweder zu ungeduldiger Warterei auf den nächsten Meilenstein oder aber – noch deprimierender – zu nervenaufreibender und wie ich jetzt weiß: auch unbegründeter Grübelei.

Das ist für Außenstehende vielleicht schwer nachzuvollziehen. Aber für Eltern ist jeder Entwicklungssprung – unabhängig davon, wann er stattfindet – immer ein riesiges Ereignis.

Mein Mann und ich platzten fast vor Stolz, als Minne nur wenige Stunden nach der Geburt das erste Mal für den Bruchteil von Sekunden sein Köpfchen anhob.
Erst später habe ich mal irgendwo gelesen, dass dies völlig normal und überhaupt nichts Besonderes ist. Aber mein Mann und ich, wir fühlten uns an diesem Tag, als hätten wir nicht weniger als das achte Weltwunder erschaffen.

Oder als Minne eines Tages seine ersten Schritte tat (und ich weiß es noch wie gestern: Er wankte im Bad plötzlich unsicher von der Dusche bis zum Handtuchregal), wurde dieser sonst so gewöhnliche Mittwochmorgen auf einmal Rot im Kalender angestrichen und noch auf dem Weg zur Arbeit alle Omas, Opas, Onkel und Tanten per Telefon auf den neuesten Stand gebracht: „Er läuft! Er kann laufen! Wir haben jetzt hochoffiziell ein waschechtes Kleinkind zu Hause!“

Zurück in die Vergangenheit: Minne aus der Krachmacherstraße.

Das Einzige, das die Freude immer ein bisschen trübte – und das wird den meisten Menschen, die sich in diesem Elternkosmos bewegen vielleicht auch schon aufgefallen sein – ist: Selbst ohne entsprechenden Literaturhintergrund werden Kinder zu jeder sich bietenden Gelegenheit miteinander verglichen.

Das beginnt beim Geburtsgewicht im Krankenhaus, zieht sich über die exakte Monatsangabe beim Krabbeln, Sitzen oder Laufen und endet womöglich erst mit Mitte 20, wenn die Jungs ausgezogen sind oder den angestrebten Bildungsabschluss in der Tasche haben. Ich weiß es nicht.

Dazwischen aber liegen Unmengen an Zahlen: Egal, ob in Perzentilen für Körpergrößen und -gewicht, die der Hersteller auf die Windel hat aufdrucken lassen, in Kleideretiketten, im oder auf dem Kopf des Babys.

Das ist einerseits natürlich wichtig und auch nicht unspannend, weil es zeigt, inwieweit die eigene Brut sich in die Statistik einreiht.

Andererseits – wie gesagt – kann es aber auch zu Verunsicherung führen, gerade, wenn man zum ersten Mal in diesem Elternzug sitzt. (Gleichwohl ich die Bezeichnung Erstlingseltern irgendwie nicht mag, denn sie klingt so, als spräche man dieser Gattung entscheidende Kompetenzen ab. Und das trifft nur in den seltensten Fällen wirklich zu.)

Fakt ist aber: Als Elternteil neigt man dazu, sich durch Normkurven und Vergleiche verunsichern zu lassen. Und wenn das eigene Kind dann hier und da vielleicht doch mal aus dem Rahmen fällt, sind schlaflose Nächte vorprogrammiert.
So von wegen: „Warum kann mein Kind noch immer nicht krabbeln / puzzeln / schwimmen /sitzen / malen / sich selbstständig ausziehen / einen Ball kicken ? Das Nachbarskind kann’s doch auch!“

Nicht vor Vergleichen gefeit ist man nach meinem Erachten sowieso dann, wenn man selbst mehr als ein Kind bekommen hat und die damit verbundenen Erinnerungen und Erfahrungen, quasi einem Automatismus folgend, immer wieder abrufen kann.

Vergleiche kann man schlecht stoppen. Muss man auch nicht. Aber man sollte sie möglichst wertfrei anstellen. Denn im Grunde gibt es kein Besser und kein Schlechter; Entwicklung ist ja kein Wettbewerb.

Die gleichen Eltern, das gleiche Geschlecht, die gleichen Maße bei der Geburt – aber zwei völlig unterschiedliche Menschen.

Als ich 2016 erfuhr, dass ich mit dem zweiten Jungen schwanger bin, dachte ich, ich wüsste genau, wie der Hase läuft: derselbe biologische Vater, dieselbe Mutter, selber Haushalt, selbes Geschlecht. Alles schon mal erlebt. History repeated!

Und trotz dessen – Ihr ahnt es vielleicht – liegen zwischen diesen beiden Jungs nicht weniger als Universen. Nicht nur, was deren optische Erscheinung oder prominente Charakterzüge angeht, sondern auch in Sachen Entwicklung und Vorlieben könnten Minne und Bohne nicht unterschiedlicher sein.

Gerade beim Spielen fällt mir das am deutlichsten auf:
Minne brachte als Kleinkind seinerzeit zum Beispiel unwahrscheinlich viel Zeit mit Steckspielen aller Art zu und ist trotzdem kein Puzzle-Ass geworden.
Also hob ich Steckeimer, Kullerelefant und Holzklopfbank in weiser Voraussicht auf. Aber die Bohne würdigt diese Teile bis heute nicht eines ernstzunehmenden Blickes!

Stattdessen liebt sie es, alle möglichen Dinge hinter sich herzuziehen, was Minne wiederum nie in den Sinn kam. (Und ich äußerst schade fand, denn kleine Kinder, die etwas hinter sich herziehen, sehen nicht nur verdammt niedlich aus sondern erwecken auch den Eindruck, als hingen sie emotional an eben diesem einen Spielzeug.)

Ein Klassiker, den Ihr vielleicht sogar noch aus Eurer eigenen Kindheit kennt: Das Plappertelefon von Fisher Price ist hier hoch im Kurs. (Gibt’s inzwischen als Neuauflage UND als schnuckelige Retroversion, die aussieht wie „von damals“.)

Wie gesagt…

Wo Minne seinerzeit fremdelte – waren es unbekannte Tiere oder Menschen – verzieht die Bohne nicht eine Miene. Egal, wie furchteinflößend etwas aussehen mag: Die Bohne tut sich nicht schwer damit, es sich genauer anzusehen und gegebenenfalls auch anzufassen.
Fremde Menschen in fremden Ländern? Für die Bohne kein Ding, für Minne selbst beim herzensguten Großvater mit Rauschebart damals jedes Mal ein Meer von Tränen wert.

Andersherum ist Minne schon immer ein Haudegen: In jedem Schwimmbad war er der Erste, der ins Wasser sprang, und wo immer er ein Laufrad entdeckte, riss es sich unter den Nagel.

Die Bohne agiert heute im gleichen Alter lieber als Zuschauer:
Wasser ist nicht unbedingt das Element erster Wahl (es sei denn, es handelt sich um die heimische Badewanne) und auch mit dem Interesse an Rutschautos, Drei- oder Laufrädern hält es sich deutlich in Grenzen. (Was mich gerade einen müden Blick auf das hier stehende, neue Laufrad zum zweiten Geburtstag werfen lässt.)

Minne liebte es, die Tupperschüsseln aus den Küchenregalen zu werfen, die Bohne räumt sie lieber ordentlich wieder ein.
Minne mag ausschließlich weiße Schokolade, die Bohne dunkle.
Die Bohne verschlingt mit Hingabe Bananen, Minne bevorzugt Himbeeren.
Minne ist Rückenschläfer, Bohne liegt am liebsten auf dem Bauch.
Minne ist für sein Alter größer als der Rest, die Bohne deutlich zierlicher als Gleichaltrige.

Und so könnte ich das immer weiter fortführen.

Kann fremden Tieren schon immer mehr abgewinnen als Minne: Die Bohne liebt alle Hunde, egal wie groß oder klein.

Spannend daran finde ich, dass Minne die kleine Version meines Mannes zu sein scheint, und die Bohne, Stand heute, eher nach mir kommt. (Und ich kann nicht bestreiten, dass auch diese Entwicklung mich nicht ein klein wenig mit Stolz erfüllt. 😉 )

Ohnehin
ist es manchmal eine Freude, zu sehen, wie Kinder ihre Eltern kopieren:
Als mein Mann Minne mit 3 oder 4 Jahren mal ein iPhone aus Pappe bastelte, tat der tagelang nichts anderes, als im Nebenraum (weil „ungestört“) damit zu telefonieren.
Und auch Streitereien fühlen sich bis heute und immer mehr danach an, als diskutiere man eigentlich mit der kleineren Version von sich selbst.

Was beide Jungs zu teilen scheinen ist die Leidenschaft für’s – ich sag’s mal diplomatisch –  „Stifthalten“. Der Kleine macht’s dem Großen nach, der aber begann erst im Alter von etwa viereinhalb Jahren damit. Eine „Liebe auf den ersten Blick“ war das weiß Gott nicht. Denn bis dahin habe ich zu meinem Leidwesen nie irgendwelche Gemälde von Minne bekommen. Und all die kugeligen Prinzessinnenbilder im Fach der anderen Kindergartenkinder stimmten mich nachdenklich.

Und dann – zack! – eines Tages begann er plötzlich, mich auch damit zu überschütten. Weiß der Geier, wieso auf einmal. (Diese Phase dauert aktuell übrigens noch an, und inzwischen könnte ich unsere ganze Küche mit allen möglichen Motiven tapezieren)

 

Mit fünf Jahren glich unsere Küche einer Galerie. Hier nicht zu sehen: unsere „Kunstabzugshaube“.

Heute denke ich: Hätte ich weniger oft nach rechts und links geguckt, wären meine ersten Jahre als Mama deutlich sorgenfreier gewesen.

Denn es gibt nun mal Kinder, die lieber puzzeln als andere. Es gibt Kinder, die furchtloser Fahrrad fahren als andere. Es gibt Kinder, die akkurater malen, früher laufen, später schwimmen, die anhänglicher oder selbstständiger sind.

Die Kunst besteht darin, sie in ihren eigenen Vorlieben zu unterstützen – und die Herausforderung, sie so zu nehmen, wie sie geraten, auch wenn wir uns das vorgeburtlich vielleicht immer völlig anders vorgestellt haben.

Das Gras wächst nicht schneller wenn man daran zieht.

Ich meine, ich werde nicht müde, mich zu wiederholen: Wir alle haben in uns drin einen gesunden Menschenverstand, ein Bauchgefühl, das durch äußere Einflüsse nicht selten übertüncht wird. Die eigenen Kinder genau zu beobachten und nach ihren eigenen Interessen entsprechend zu fördern (durch ein wechselndes Angebot an altersgerechtem Spielzeug und durchs Ausprobieren unterschiedlicher Aktivitäten), ist meines Erachtens alles, was man tun kann und auch tun sollte.

Und selbst der auf Entwicklungspsychologie von Kindern spezialisierte Prof Dr. Zimpel, der mit seiner Expertise auch Fisher-Price beratend zur Seite steht, sagt dazu: „Mit Spielen lernen Kinder viel schneller und leichter. Eltern sollten daher vorsichtig mit verschiedenen Förderungsangeboten sein. Wer z.B. möchte, dass seine Kinder im Vorschulalter bereits eine Fremdsprache lernen, sollte sie mit Kindern spielen lassen, die diese Sprache sprechen. Sobald etwas mit Spiel und Spaß verbunden ist, erinnern sich Kinder lieber daran und es bleibt dadurch länger im Gedächtnis.“

 

Im Puzzeln eine Niete, beim Biken ein kleines Highlight: Minne mit 4 bei einem seiner „Tricks“.

Sorgen sind wie Nudeln: Man macht sich davon immer zu viel.
Aber letztlich sind viele davon unbegründet: Auch Kinder, die mit zwei Jahren noch an der Brust hängen, essen irgendwann feste Nahrung, und Kinder, die mit 6 Jahren nachts ins elterliche Bett wandern, werden spätestens in der Pubertät damit aufhören.

Mir ist kein Kind bekannt, das nicht doch irgendwann mal einen Ball auffängt, und keines, das sich sein Leben lang gegen das Fahrradfahren sträubt.
In jedem Kind steckt ein Entdecker. Und am besten entdecken lässt es sich ohne Eile und wertende Vergleiche.

Unabhängig davon, wie sich Minne und Bohne bislang entwickelt haben und entwickeln werden, bin ich auf beide unwahrscheinlich stolz. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass es das Beste ist, sich einfach über jede Art von Entwicklung zu freuen, egal, wann sie stattfindet oder wie sie aussieht. Denn sie passiert so oder so. Und mit dieser Überzeugung fahre ich inzwischen ziemlich gut.

Also erzählt mal: Über welchen Entwicklungssprung habt Ihr Euch bislang am meisten gefreut?