Seit ungefähr zwölf Jahren lebe ich jetzt vegetarisch, Minne seit seiner Geburt.
Das Böhnchen steckt noch alles in seinen Mund, was halbwegs greif- und erreichbar, unabhängig davon, ob dies in unserem Verständnis auch „genießbar“ ist, wird aber hoffentlich den gleichen Weg einschlagen wie sein großer Bruder.
Und der Minnenmacher ist das, was man gemeinhin wohl als „Flexitarier“ bezeichnet: er isst sehr gern vegetarisch, sagt aber auch zu einem guten Burger nicht Nein.

Immer wieder werde ich gefragt, warum wir (das meint: Minne und ich) weder Fisch noch Fleisch essen.

Und wie Minne all den Haribo-Gummibärchen und Wiener Würstchen auf Kindergeburtstagen widerstehen kann und wie wir das im Kindergarten handhaben und überhaupt: wie das so funktioniert, wenn der Papa doch überhaupt nicht „in unserem Team“ is(s)t. …

Vorweg sei kurz angemerkt: ich weiß, konsequenter wäre es, vegan zu leben, das Lederlenkrad aus meinem Auto auszubauen und Böhnchens altes Schaffell, das vor ihm schon unzählige andere Kinder warm gebettet hat, wegzuschmeißen oder wenigstens an jemanden weiterzugeben, dessen Gewissen deswegen reiner ist als meines.

Aber lasst uns für dieses Mal dabei bleiben, dass ich Euch erzähle, wie es so kam, dass es so kam, dass wir keine Tiere essen.

Weil: dass ich Vegetarierin wurde war ehrlicherweise gar nicht mein Plan. Ganz im Gegenteil.

So mit 16, 17, 18 Jahren habe ich diesen ganzen Schlag Mensch mehr oder weniger belächelt und sie für olle, spaßbefreite Hippies ohne Sex und ohne Auto gehalten.
Wissen ja gar nicht, was ihnen entgeht, habe ich gedacht.

Schmeckt doch gut, habe ich gedacht.

Und die denken, die retten die Welt mit so einem Miniaufstand.

Ihr ollen, spaßbefreiten Hippies ohne Sex und ohne Auto, habe ich gedacht.

Lächerlich.

Und dann, eines Tages – ich war gerade inmitten eines mehrmonatigen Praktikums und saß in Zuge dessen vor dem Schreibtisch – bekam ich eine Email von irgendwem aus der Firma, der ausnahmsweise mal nicht nach einem Nokia-Ladekabel fragte.
Ich weiß gar nicht mehr, wer das war. Und ich meine auch, die Mail sei gänzlich ohne Text ausgekommen. Aber ein Link war drin, hin zu Youtube. Aber nur mit Anmeldung, weil „erst ab 18“.

Das klang spannend. Spannender zumindest als mein Praktikum. Und der Titel des Videos las sich sinngemäß so ähnlich wie „Muss das denn sein?“ – und weil dieser Titel vieles vermuten ließ, meldete ich mich an, setzte meine Kopfhörer auf, drückte auf Play und lehnte mich zurück, bereit, mich im tristen Praktikantenalltag entertainen zu lassen.

Und nach acht Minuten saß ich da und habe geheult wie ein Schlosshund.
Tierversuche, Tiertransporte, Tierschlachtungen. Es war nicht mehr als ein Zusammenschnitt von all diesem, acht Minuten lang, hinterlegt mit klassischer Musik. Ich hab die Bilder noch heute vor Augen.

Ich meine: klar wusste ich, dass es sowas gibt. Jeder weiß das, wir leben ja nicht hinter’m Mond.

Tierversuche, ja, irgendwas mit Ratten und Cremes oder so. Fanden vielleicht vor Jahren mal statt, dachte ich, aber doch heute nicht mehr.

Tiertransporter hatte ich irgendwann auf der Autobahn mal gesehen. Einen vielleicht, oder zwei. Aber an der nächsten Raststätte auch schnell wieder vergessen.

Und mei: dass Tiere erschossen werden oder sonstwie erledigt (weiter habe ich mich nicht zu denken getraut), damit sie nicht zappelnd auf meinem Teller liegen, das war mir auch bewusst. Also, so halb zumindest. Pizza ist fertig!

Die Welt hat eben auch unschöne Seiten, das ist ja nicht neu.
Aber dass mein Verdrängungsmechanismus die letzten sechzehn, siebzehn, achtzehn Jahre lang so gut funktionierte, das hatte ich nicht gedacht. Und dass es so schlimm zugeht, das hatte ich mir einfach nicht vorstellen können. Das wusste ich nicht.
Ich wusste das nicht, wieso wusste ich das nicht?, habe ich immer wieder mantraartig vor mich hin gebetet und bin eine rauchen gegangen.

Und dann fühlte ich mich schuldig.

Und ich war ich sauer.

Erst auf meine Eltern, weil sie mir nie die Kehrseite der Medaille gezeigt hatten und das doch ihre Pflicht gewesen wäre. Aber woher hätten sie es wissen sollen?

Und dann – Minuten später – auf mich selbst, weil ich nämlich nie auf die Idee kam, von alleine zu hinterfragen, was ich da eigentlich immer konsumiere. Bin doch alt genug, schoss es mir vorwurfsvoll durch den Kopf.

Maßlos und hirnlos, habe ich dann gedacht.

Hauptsache, es schmeckt.

Und dann rennt man ins Fitnessstudio, um den Burger wieder von den Hüften zu kriegen. Ehrlich?

Hier, ich, gestern erst.
Und dann versuchte ich mich zu trösten:
Meine Katze! Wie schön, dass es ihr so viel besser geht als den armen Schweinen dieser Welt.
Ich ess‘ sie ja nicht, ich streichel sie. Sie darf mit ins Bett, sogar auf der Küchenzeile rumlaufen, und niemand tut ihr etwas zuleide.

Aber… Warum esse ich das arme Schwein, das Rind, das Huhn – und meine Katze nicht?

Ich meine: ich liebe Tiere. Schafe, Kühe, Schweine, Pferde. Ich sehe sie nicht besonders oft, aber wenn, dann mag ich sie.

Andererseits: alle anderen um mich herum haben das auch immer so gemacht. Jeder hat Fleisch gegessen, immer, und niemandem ist daran etwas Schlechtes aufgefallen.

Leckere Hühnerbrust aus dem Ofen oder Hackbällchen, Burger von Mäcces, die Hotdogs bei Ikea und wer hätte nicht Appetit auf Spaghetti Bolognese?
Und gleichzeitig bezeichneten sich eigentlich alle meine sozialen Kontakte als tierlieb.
Ich mich ja auch, sowieso.

Und wenn man mal über die Profile der einschlägigen Datingportale klickt, dann muss es von diesen tierlieben Menschen ja noch viel, viel mehr geben – auch wenn sie dann laut eBay Kleinanzeigen alle in tierlosen Nichtraucherhaushalten wohnen, aber das wäre jetzt ein anderes Thema.

Jedenfalls: Katze streicheln, Schwein essen – das stand in meiner Welt nie in einem Widerspruch.

Bis zu eben diesem Tag.

Und wenn man als tierlieber Mensch zum Metzger geht oder bei Aldi das Kilo Hackfleisch für 1,99 Euro kauft, dann schaut einen ja auch niemand so an, als täte man etwas Verbotenes.
Wir reden schließlich nur vom Mittagessen, nicht von einem Hardcoreporno.

Nur: wenn man sich mal ein bisschen mit dieser Thematik beschäftigt (wie werden die Tiere denn genau getötet? Wie werden sie vorher gehalten? Ist das artgerecht? Wie gerecht ist denn „artgerecht“ eigentlich? Wer bestimmt das? Sehe ich das auch so?), dann muss man wohl oder übel feststellen, dass es keinen rationalen und erst recht keinen emotionalen Grund gibt, einen Unterschied zu machen zwischen der geliebten Hauskatze und einem Schwein, das ja nun mal nichts dafür kann, einem zu Lebzeiten nicht persönlich über den Weg gelaufen zu sein.

Weil, zumindest bei mir ist es so: hätte ich die Gelegenheit gehabt, ein Schwein zu streicheln – dann hätte ich es auch nicht essen können. Geschweige denn selbst töten, zerschneiden, ausnehmen.

Die Gelegenheit hatte ich aber nicht, also war das Essen kein Problem.
Nur: ist es bei genauerer Betrachtung nicht genau so falsch? Die Tatsache, dass man es getötet und ausgenommen und kleingemacht hat, verschwindet ja nicht einfach, nur weil ich es nicht kannte. Das ist alles passiert, man sieht es nur nicht.

Für mich stand also relativ schnell fest, dass ich mit dieser Doppelmoral – denn nichts anderes ist es ja – nicht länger leben mag.

Und ich möchte mich sogar so weit aus dem Fenster lehnen, zu sagen: eigentlich wissen wir alle, dass es nicht richtig ist.
Denn Mord ist Mord und dafür braucht es Gewalt. Und Gewalt – das wissen wir auch alle – ist nichts Schönes. Denn wer will schon selbst, dass ihm Gewalt angetan wird? Und ich denke, nur eine Minderheit steht darauf, selbst jemand anderem Gewalt anzutun.

Was passiert ist aber, dass uns diese Empathie in Hinblick auf die Ernährung von Kindesbeinen an aberzogen wird: „Iss doch mal Dei Würscht’l!“, habe ich letzten Sommer noch eine neureiche Münchnerin zu ihrem etwas pummligen Sohn am Nachbarstisch im Biergarten sagen hören.
Aye, woher soll denn der Sohn auch wissen, was im Würscht’l drin is? Ein Würtschl is’ ein Würscht’l und kein zerhackstückelter, mit allerlei Pampe wieder zusammengesetzer, von ausgewaschenem Darm überstüplter, sich zersetzender Kadaver. Lecker Würschtl‘, über mehr wird nicht nachgedacht.

Ich denke auch, es hat einen triftigen Grund, weswegen man tote Tiere im Supermarkt nicht mehr als solche erkennen kann.

Den Anfang machen „Bärchenwurst“ und Dinosaurier-Nuggets für kleine Kinder. ihr wisst ja: wenn Du es nicht gesehen hast, dann ist es auch nicht passiert.

Und ein Wienerle ist ein Wienerle und ich würde meine linke Pobacke darauf verwetten, dass sich noch nicht einmal die Hälfte der Konsumenten überhaupt im Klaren darüber ist, in welches Tierbein genau sie jetzt eigentlich beißen. Wienerle halt. Aber ein Wienerle hat eben doch eine deutlich andere Produktionskette hinter sich gebracht als ein Glas Schwartau Marmelade.

Na, und so kam es jedenfalls, dass ich für mich selbst beschlossen habe, sowas nicht mehr zu supporten.

Klar verrecken deswegen noch immer elendig viele Hühner in Mastbetrieben, weil die dicken Mädchen nach dem Sport eben gerne Ceasar’s Chicken Salad mit überzüchteter Hühnerbrust essen wollen und die Schweine werden trotzdem abgeschlachtet, denen helfe ich damit sicher nicht.

Und L’Oréal wird weiterhin an Hasen testen, auch wenn ich Balea kaufe. Und wenn ich Bio-Eier aufs Kassenband lege für das Doppelte und die Dame hinter mir fünf Päckchen von Damals-Käfig-jetzt-Freilandhaltung, dann, ja, kann man sich natürlich darüber streiten, inwieweit mein Vorgehen sinnvoll sein mag.
Nur, es ist so: wenn ich abends im Bett liege, dann weiß ich: ich bin nicht mehr Schuld an all dem, ich mache da nicht mehr mit, diese Tiere erleiden die schlimmsten Qualen nicht meinetwegen.

Und als Minne auf die Welt kam, da war von Anfang an klar wie wir es handhaben würden. Zu dieser Zeit gab es keine große Auswahl an vegetarischen Babygläschen und besonders meine Eltern waren von meiner Überzeugung, das Kind vegetarisch groß zu ziehen, anfangs wenig begeistert.
Beide sind auch bis heute keine Vegetarier, leider, aber meine Mutter nahm es irgendwann sportlich und wo auch immer sie war und eine neue Sorte vegetarische Babygläschen entdeckte, brachte sie sie mir mit. (2011 war das tatsächlich noch bei weitem nicht so verbreitet wie heute und das Kind in einem Joolz durch die Gegend zu fahren war auch etwas ganz Besonderes.)

Mein Gedankengang war: ich kann meinem Kind einfach nichts geben, von dem ich selbst glaube, dass es Gift ist.
Denn die Angst der Tiere vor dem Tod, die Gewalt, die man jedem Lebewesen antun muss, um es umzubringen – all das isst man mit. Das klingt vielleicht ein bisschen esoterisch, aber es ist so.

Und man fühlt sich schlecht danach (Stichwort: Schnitzelstarre), auch wenn das sicherlich kein sonderbar präsentes Gefühl ist.

Mit Minne und seiner vegetarischen Erziehung verhält es sich demnach ähnlich wie mit dem Jungen am Münchner Nachbarstisch – nur eben andersherum.

Man bringt es ihnen bei, wie man ihnen beibringt, keine Zigarettenstummel auf dem Spielplatzboden aufzusammeln.

Das Würtschl’ war von Anfang an bäh! und nein-nein! und beim Angucken der ersten Bauernhof-Bilderbücher – zu dieser Zeit konnte er noch nicht mal sprechen – habe ich ihm erklärt, dass es Menschen gibt, die das Oink-Oink essen oder die Muuuh! Und dass wir das nicht tun, weil:

Tiere sind unsere Freunde. Und seine Freunde isst man nicht.
Und die Jahre vergingen und viele Gelegenheiten kamen und interessanterweise gab es tatsächlich keinen einzigen Moment, in dem Minne mit dieser Einstellung ein Problem gehabt hätte. Es ist eben Erziehung. Und Erziehung ist ein bisschen wie Religion und bis man in die Pubertät kommt wahrscheinlich auch erst mal nichts, das man infrage stellt. Ich meine: hätten mich meine Eltern nach dem Koran erzogen, wäre ich heute Muslimin, oder?

Aber bevor das hier jetzt noch länger wird und ich mich in Grund und Boden schreibe, kürze ich es an dieser Stelle mal etwas ab. (Ihr seht, dieses Thema ist abendfüllend.)

Meine schlichte Erkenntnis am Ende war: nur, weil alle das schon immer und überall um mich herum gemacht haben, heißt das nicht, dass es richtig ist. Und auch nach zwölf Jahren kann ich sagen: das Einzige, was ich bereue ist, dass ich es nicht früher hinterfragt und entsprechend geändert habe.

Es ist so ein bisschen wie mit der eben aufgehängten Jacke, die von der Garderobe fällt. Oder dem Kaugummipapier, das neben dem Mülleimer gelandet ist: wenn man darum weiß, dann kann man natürlich weiterlaufen und so tun, als hätte man es nicht gesehen.
Aber fairer wäre es, sich die Mühe zu machen und sich zu bücken.

Einfach, damit man kein Arschloch ist. Damit man Haltung beweist vor sich selbst.

(Und nebenbei bemerkt bekommt man davon auch noch einen relativ knackigen Hintern, bessere Laune und bessere Haut.)

Vegetarische Rezepte findet Ihr unter der Rubrik „Danke, schmeckt so“